Festtagsrede von Dr. Walter Hauser (LVR) zum 650jähr. Stadtjubiläum
Für die Auftaktveranstaltung der gemeinsamen Jubiläumsaktivitäten vom Klärwerk und HdS zum 650jährigen Krefelder Stadtjubiläum konnten die Organisatoren Dr. Walter Hauser, Leiter des LVR-Landesmuseums, für die Festtagsrede gewinnen. Am Ende seiner Ausführungen überreichte Hauser unserem Museumschef Hansgeorg Hauser und Christoph Becker vom Klärwerk die ERIH-Mitgliedsplakette. Damit ist es jetzt offiziell, dass es sich beim Haus der Seidenkultur (HdS) und dem Uerdinger Klärwerk um Industriedenkmäler handelt, die entlang der Route der Europäischen Industriedenkmäler liegen. Hier nun die festliche Ansprache des LVR-Mannes:
LVR-Repräsentant Dr. Walter Hauser (rechts) überreicht Hansgeorg Hauser (links) und Christoph Becker, die ERIH-Plakette. Damit liegen jetzt sowohl das Haus der Seidenkultur als auch das Uerdinger Klärwerk entlang der Route europäischer Industriedenkmäler.
HdS-(Film-)Foto: Dieter Brenner
„Gerne habe ich die Einladung angenommen, zur Ausstellungsvernissage im Jubiläumsjahr der Stadt Krefeld hier im Klärwerk sprechen zu dürfen. Zeigt die heutige Veranstaltung doch, wie sehr Industriekultur in Krefeld in den Köpfen und Herzen – endlich – angekommen ist, und dabei ist, zu einem lebendigen, unverzichtbaren Teil der Krefelder Kultur zu werden – vielleicht gar zu einem Stück Stadt-Identität?
Viel ist geschehen in Sachen Industriekultur in Krefeld in den letzten Jahren. Das verdankt sich weniger klugen Verwaltungen, Agenturen oder Gremien, sondern vor allem einigen hoch engagierten Menschen in Krefeld, die die Ausstrahlung und Aura von Orten wie diesem hier entdeckten, die sich davon begeistern ließen – die dann einfach machten, anpackten und andere damit ansteckten. Und die ihre Köpfe zusammenstecken und miteinander kooperieren, wie beispielhaft bei diesem heute zu eröffnenden Gemeinschaftsprojekt von Klärwerk und Haus der Seidenkultur, zwei Highlights der Industriekultur in Krefeld.
Als ich vor über 10 Jahren in diese Stadt kam, manche werden sich erinnern, da hing die Zukunft des Hauses der Seidenkultur eher noch am seidenen Faden – kaum einer, außer Hansgeorg Hauser natürlich, wollte darauf eine Wette eingehen. Ein anderes Juwel der Industriekultur, Mies van der Rohes Verseidag-Bauten, wartete noch darauf, richtig aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Das Klärwerk in Uerdingen war höchstens ein Geheimtipp, wenn es überhaupt jemand kannte. Heute feiern wir hier ein wunderbares Stadtjubiläum und erfreuen uns an den Werken von Künstlerinnen und Künstlern, die hier anders zur Geltung kommen als etwa im White Cube eines Kunstmuseums. Nach dem pünktlichen Abschluss des ersten Teils der Sanierungsarbeiten vor wenigen Tagen ist das Klärwerk endlich ganz regulär als Veranstaltungsort nutzbar und wird das Kulturleben der Stadt sehr bereichern. Das Programm, das uns in den kommenden Wochen hier und im Haus der Seidenkultur erwartet – Ausstellungen, Konzerte und vieles mehr – ist fulminant.
Denkmale sind ja nicht um ihrer selbst willen da, auch nicht allein wegen ihrer Architektur oder besonderen Geschichte, sie müssen leben, in ihnen muss neues Leben stattfinden, durch neue Nutzungen; dann entfalten sie ihre Kraft, schaffen Räume, die uns an Vergangenes erinnern und aber dadurch uns auch zu Neuem inspirieren.
Viel ist geschehen in den letzten Jahren. Aber der Schatz der Krefelder Industriekultur ist groß und noch nicht gehoben. In NRW denkt man bei Industriekultur vielleicht zu sehr an das Ruhrgebiet, an den – zugegeben spektaktulären – „big stuff“ der Ruhrindustrie. Der verstellt uns manchmal den Blick auf andere Orte. Ich bin viel in Europa in Sachen Industriekultur unterwegs, begegne viel Aufbruchsstimmung. Hierzulande scheint mir, dass für viele, gerade im politischen Raum, Industriekultur eher als eine Sache von gestern gilt, ein Kind des Strukturwandels im Ruhrgebiet des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Das ist ein großes Missverständnis. Denn das was uns heute alle umtreibt, die große Transformation der fossilen Industriegesellschaft – wo, wenn nicht an den einstigen Schauplätzen dieser Industriegesellschaft, lässt sich besser verstehen und verhandeln, worum es dabei geht? Industriekultur beginnt mit dem Erinnern an das Vergangene – an die epochale Transformation des Industriezeitalters, die an Orten wie diesen stattfand, aber sie öffnet eben auch Räume für die Zukunft. Im historischen Klärwerk geht es um Wasser – zukunftsgerichteter könnte das Thema dieses Ortes nicht sein.
Industriekultur erfindet sich dabei immer wieder neu. Gerade Krefeld wird sehr unterschätzt in der Vielfalt des industriellen Erbes; Krefeld verdankt sich eben nicht wie viele der bekannten großen Industriezentren einer industriellen Monostruktur.
Zweifellos war die Samt- und Seidenindustrie das identitätsbildende Aushängeschild Krefelds, lange ihr bedeutendster Gewerbezweig – aber welche andere Textilstadt war zugleich so stark als Stahlstandort und als Chemiestandort, aufgrund ihrer Lage an der Schnittstelle von Ruhrgebiet und Niederrhein, auch an der Handelsachse des Rheins. Davon zeugen noch immer beeindruckende Bauten am Hafen, das Edelstahlwerk, die zugehörigen Siedlungen, die Verseidag-Bauten oder eben, beispielhaft für das die Stadt prägende Produktionsregime, das Haus der Seidenkultur. In Krefeld ist Bedeutendes erfunden und entwickelt worden, von Farbpigmenten über Walzen bis zu Super-Absorbern, und anders als vielerorts im Ruhrgebiet, gibt es hier auch noch reichlich lebendige Industrien, die Hightech-Textilfasern oder Hightech-ICE-Züge produzieren, und hochspezialisierten Maschinenbau, der natürlich auch in der textilen Vergangenheit seine Wurzeln hat.
Noch spannender finde ich aber, wie vielseitig das industriekulturelle Erbe der Stadt heute sich wieder mit Leben füllt. So entwickeln sich Orte für das Erinnern und das Bewahren handwerklicher Tradition; Orte, die der Stadt- und Kulturlandschaft ein Gesicht geben, Orte, die Raum für neues Gewerbe, für Wohnen, sozialen Zusammenhalt, für Tourismus und Bildung schaffen – und last not least für Kunst und Kultur. Wunderbar, wenn man so einen Ort wie den Websaal im Haus der Seidenkultur hat und daraus ein europaweit einzigartiges Museum (und, wie wir gleich sehen werden, eine ebenso eindrückliche Fotoausstellung) machen kann – vergleichbar damit auch das kleine Museum in der ehemaligen Weinbrennerei Dujardin, in der man beim Besuch meint, die Produktion müsse doch gerade erst vor kurzem geendet haben. Die Engländer nennen so etwas eine „time capsules“ – Zeitkapseln.
Oder eben die Samtweberei Mottau & Leendertz, mit ihrem innovativen, ungewöhnlichen Erhaltungs- und Nutzungskonzept, das diesen Ort zum Nukleus neuer sozialer Quartiersentwicklung macht; oder das Verseidag-Gelände, das neuen Geschäfts- und Gewerbeideen Raum bietet. Letzteres sind jedes auf seine Weise „Zukunftslabore“. Und schließlich das Klärwerk, das auf dem Weg ist, ein lebendiger Ort der Kultur, des Diskurses und der Bildung zu Fragen der Zeit zu werden. Der sich geradezu anbietet, über eines der großen drängenden Themen unserer Zeit zu sprechen, zu diskutieren, sich zu bilden: Wasser.
Kurzum – der Wahlspruch der Stadt: innovativ – kreativ – weltoffen, das passt schon ziemlich gut zu diesen industriekulturell geprägten Orten, und es passt ganz wunderbar auf die Arbeit der beiden Initiativen, die das Haus der Seidenkultur und das Klärwerk neu zum Leben erweckten.
Industriekultur also allüberall? Nun ja, so gut wie alles, was uns an Dingen heute so umgibt, ist ja letztlich ein Ergebnis industrieller Prozesse; die Art und Weise, wie wir arbeiten, selbst wie wir unsere Freizeit gestalten, sie ist zutiefst vom Industriezeitalter geprägt. Es steckt in unseren Köpfen, ist quasi allgegenwärtige kulturelle Prägung. Weil die industrielle Produktion heute oft in andere Länder abgewandert und unsichtbar geworden ist, ist uns das oft nicht mehr so richtig bewusst: die zeitweise populäre Rede vom sogenannten post-industriellen Zeitalter ist aber recht verlogen. Der globale Siegeszug industrieller Produktions- und Lebensweisen hat Kultur und Natur auf dem Planeten Erde mittlerweile freilich so tiefgreifend – und bedrohlich – geprägt und verändert, dass wir heute von einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän sprechen. Industriekultur ist die Signatur dieses Zeitalters, und wenn wir diese Zeit, unsere Zeit, verstehen wollen, dann brauchen wir genau solche Orte wie diesen hier.
Ganz nebenbei ist es auch nachhaltig und Ressourcen schonend, diese Orte neu zu nutzen statt sie abzureißen.
Bürgerschaftliches Engagement
Das, was hier geleistet wurde - in erster Linie das Ergebnis eines bürgerschaftlichen Engagements -, ist bewundernswert, aber auch ein wenig typisch für Industriekultur. Und schon immer gewesen, seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren – man denke an den Erhalt der ältesten Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets, Eisenheim in Oberhausen, oder um die Kämpfe um die Zeche Zollern in Dortmund (das erste eingetragene Industriedenkmal in Deutschland), aber auch viele andere Juwelen, die die Kulturlandschaft in NRW heute wie selbstverständlich prägen – im Kern war Industriekultur immer und zunächst „Kultur von unten“. Wie für andere Sparten von Kunst und Kultur gilt freilich auch hier: ohne nachhaltige Unterstützung der öffentlichen Hand geht auf die Dauer nichts, Stadt und Land müssen hier ihrer Verantwortung gerecht werden.
Ich sagte vorhin, Krefeld wird unterschätzt. Nun, immerhin ist Krefeld jetzt endlich auch auf der europäischen Landkarte der Industriekultur sichtbar und mit diesen zwei wunderbaren Standorten vertreten. Sie sind beide Mitglied und ein Teil von ERIH geworden, der Europäischen Route der Industriekultur. Wenn Sie ERIH noch nicht kennen, dann schauen Sie später mal ins Netz, auf die ERIH-Webseite. Dort präsentiert sich eine der umfassendsten und aktivsten Europäischen Kulturrouten des Europarats, ein europäisches Kulturnetzwerk, das hunderte industriekulturelle Standorte in allen Ländern Europas miteinander verknüpft. Schon lange ist es mir ein Anliegen, Krefeld auf dieser Route zu verorten, und zum Schluss meines bescheidenen Beitrags heute habe ich noch die schöne Aufgabe, den beiden Standorten die druckfrisch eingetroffenen Standortplaketten zu überreichen.
Ich finde ja, dass es durchaus noch mehr Standorte in Krefeld gibt, die das Zeug dazu hätten, Standort von ERIH zu werden.
Ich will aber nicht länger von dem ablenken, was heute im Mittelpunkt stehen soll – die Kunst, die Kunstwerke, in gleich drei ganz verschiedenen Ausstellungen dreier Künstlerinnen und Künstler. Alle drei verbindet, dass sie alle sich in je eigener Weise von Prozessen und Dingen inspirieren ließen, die mit diesen Orten und mit industriellen Verfahren zu tun haben. Aber dass Industrie und Kunst zusammengehen, dass Industriekultur mit Kunst zu tun hat, die Inspiration der Kunst braucht, das sollte für eine Industriestadt, die einst so sehr vom Bauhaus inspiriert war, wie wir im Bauhaus-Jubiläumsjahr erst kürzlich gelernt haben, ja nichts Neues sein.
Vielen Dank!“
(Es galt das gesprochene Wort)